Wunderbar lesen sich die Gedichtbesprechungen, welche Schernikau von 1982 bis 1985 für die DKP-nahe und heimlich DDR-finanzierte Deutsche Volkszeitung verfaßte. Dabei bewahrt sich der radikale Kleinschreiber sein bohemistisches Freidenkertum. Seine Rezensionen vermeiden jede falsche Respektstarre. Über das Kafka-Gedicht „Und die Menschen gehen in Kleidern“ heißt es: „dieses gedicht ist ein gedicht, weil es in jeder zeile aus vier trochäen besteht: humpta humpta humpta humpta.“ Schon senkt sich Kafka von seinem Bildungsbürgersockel auf Augenhöhe herab. Über ein Tucholsky-Gedicht lesen wir: „alles beginnt fast übertrieben gedichtig.“ Zwar fühlt man sich von diesem Duktus mitunter ein bißchen angekumpelt. Doch das stört kaum, weil Schernikau dabei doch nie anbiedernd wirkt, die feuilletonistischen Diskursgepflogenheiten so souverän mißachtet und sich aus seinen aphoristischen Zuspitzungen so einiges lernen läßt. So staunt man, mit welcher Geduld und Sensibilität sich der Vielleser so Entlegenem wie mittelhochdeutscher Liebesdichtung nähert. Man muß kein Kulturbanause sein, um ein Kurzgedicht aus dem 12. Jahrhundert wie das anonyme „du bist mîn, ich bin dîn“ im Strom des Bunten und Neuen erstmal zu ignorieren. Nicht so Schernikau. Er zeigt, was toll daran ist: „ganz einfache worte: ‚du bist mein, ich bin dein.’ Was wir heute nur noch im schlager finden, hier ist es ganz geglückt und selbst für uns neu: einfachheit.“ Dann macht er einen kurzen Abstecher zum Thema Geschichtlichkeit von künstlerischer Wahrheit: der erste mensch, der mein und dein reimte, war ein genie; der zweite ein trottel.“ Was gestern wahr war, kann im Heute schon gelogen sein. Besser hätte es auch Rainald Goetz nicht ausdrücken können.

Thomas Hübener für spex 11/09

 

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