Ronald M. Schernikau, das zeigt sein Umgang mit der Verfahrensweise »Gesprächsabschrift« nicht nur in den verschiedenen erhaltenen Fassungen von Irene Binz, sondern auch jeder Protokolleinschub in seinem Romanessay die tage in l., war keiner von denen, die sich der direkten Wiedergabe der Selbstauskunft von Menschen aus Bescheidenheit zuwandten. Viele tun so etwas ja, weil sie Hegels »Wesentliches und Hohes« für unerreichbar halten: Große Erzählungen, denken sie, sind eh nicht (mehr) möglich, laßt uns daher den kleinen lauschen. Schernikau war schlauer: Er traute sich zu, die Befragung und ihre literarische Darstellung so zu gestalten, daß gar nichts anderes dabei herauskommen konnte als eben Wesentliches und Hohes (sowie Melancholisches, Albernes, Fragwürdiges und die übrigen »schlummernden Gefühle, Neigungen und Leidenschaften«, ohne die es im Leben nicht gut und in der Kunst überhaupt nicht geht). Dieser Dichter war schlicht der Meinung, daß ein Gespräch, das er (und nicht irgendjemand anderer) mit seiner Mutter (und nicht mit irgendjemand anderem) führen und dann entsprechend seiner Vorstellung von Protokolltreue aufschreiben mochte, gar keine anderen Haltungen würde wachrufen können als eben die richtigen.
Dieser Umstand hat weniger Triviales, als man meint. Will man ihn verständig würdigen, ist zuallererst zu beachten, daß damit keineswegs gemeint ist, die Zustimmung des Sohnes zu den Wertungen der Mutter sei das Entscheidende, oder auf doof: Nur gute Menschen sagen gute, wichtige und kunstfähige Sachen. Daß diese Frau dem Dichter über das Hin und Her zwischen DDR und BRD Belangvolleres mitteilen konnte als irgendwelche unpolitischen Idioten, ergab sich für ihn nicht einfach daraus, daß er ihren Ansichten beipflichtete. Er hätte wohl der Meinung zugestimmt, daß auch ein übler Mensch, der lauter falsche Dinge denkt, also etwa ein überzeugter Nationalsozialist und KZ-Wärter, einem über einige Dinge, zum Beispiel die Beschaffenheit der Nazidiktatur, Belangvolleres würde verraten können als irgendwelche unpolitischen Idioten (selbst wenn Letztere durch Zufall irgendwelche durchaus interessanten Erfahrungen in der betreffenden Zeit gemacht hätten).
Der einzige Gegenstand, über den Schernikau überhaupt unpolitische Idioten (und in diesem Fall aber auch wirklich niemanden sonst) hat befragen wollen, war der Zustand unpolitischer Idiotie als solcher (deshalb kommen in den Abschnitten von die tage in l., welche die Bundesrepublik Deutschland zur Zeit unmittelbar vor dem Ende der DDR behandeln, auch tatsächlich einige unpolitische Idioten zu Wort; die BRD damals, das war überhaupt nichts anderes als unpolitische Idiotie). Es geht nicht um richtige Ansichten und nicht um persönliches Betroffensein. Es geht darum, ob eine bloße empirische Figur interessant genug ist, auch zur Kunstfigur zu taugen, und darum, ob die Dichterin oder der Dichter genug Fantasie, Mut und Geschick besitzt, diese Verwandlung zu verwirklichen.
Aus dem Vorwort von Dietmar Dath